Frankfurter Rundschau Magazin, 28.06.2003

Wenn der Anfang das Ende ist
Über den schwierigen Umgang mit dem Tod des eigenen Kindes vor der Geburt

 


von Matthias Zuber


Gegen die sterile Kälte des Raumes helfen die warmen, freundlichen Worte in ihrem Ohr nicht. Der Nachhall klingt verräterisch nach Lüge. Draußen ist es dunkel. Nacht. Etwa drei Uhr. Das gedämpfte Licht im Raum betätigt ihre Vermutung, dass hier eigentlich etwas im Dunkeln bleiben soll. Auch das Fluoresziern des Monitors, der wohl dazu bestimmt ist, so etwas wie rationale, wissenschaftliche Transparenz und Wirklichkeit in das fensterlose Zimmer zu bringen, kann sie nicht täuschen. Obwohl sie nach eigener Beobachtung unter Schock steht und ein Gefühl der Leere bemerkt, das sich vom Bauchraum aus bis in den letzten Winkel ihres Gehirns vorfrisst, hat sie doch eine seltsam klare Wahrnehmung – gerade für Details. So sieht sie im Vorbeigehen, dass auf einer der Computertasten statt Zeichen und Buchstaben ein nackter Frauenkörper in Strichmännchenmanier abgebildet ist. Mit schwarzen Linien auf sandfarbenen Grund. Sie empfindet die Taste als seltsam deplaziert und sexistisch. Das Papier auf der grauen Behandlungsliege mit den silberglänzenden Beinen saugt ihr gierig den Schweiß vom nackten Rücken. Die Ärztin sitzt zwischen ihr und dem Ultraschallgerät und beginnt mit der Untersuchung, drückt Tasten, während sie, die Schwangere, die ganze Zeit, seit sie das Krankenhaus und die Geburtshilfeabteilung betreten hat, weiß, dass das Kind in ihrem Bauch tot ist.

Birte Sander[1] ist zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt, studiert evangelische Theologie und arbeitet als Sozialpädagogin. Das Kind in ihrem Bauch hat bereits einen Namen: Jens[2]. Jens ist ein so genanntes „Wunschkind“. Es war ein langer schmerzvoller Prozess, sich gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten auf einen Zeitpunkt zu einigen, Vater und Mutter zu werden, und überhaupt darauf, ein eigenes Kind zu bekommen. Der Mann, mit dem sie seit etwa zehn Jahren zusammenlebt, hat bereits einen zwölfjährigen Sohn aus einer anderen Beziehung. Der Junge lebt abwechselnd bei Birte Sander und ihrem Partner und bei seiner leiblichen Mutter. Manchmal hat die Schwangere das Gefühl, dass sie ihren Freund zu dem Kind nur überredet hat. Die beiden streiten oft und heftig. Birte Sander legt in dieser Zeit immer wieder die Hände auf ihren Bauch und entschuldigt sich bei Jens für all den Stress und die Traurigkeit, die er neben den Nährstoffe über die Nabelschnur abbekommt.

Die Ärztin fragt Birte Sander durch das monotone Rauschen des Ultraschallgerätes, ob sie in letzter Zeit Blutungen gehabt hätte. In diesem Moment meint Birte Sander ein lautes, klares Klicken in ihrem Kopf zu hören. In ihrem Hirn rasten die Erinnerung an die Blutung vor einer Woche und die Erkenntnis ineinander ein, dass diese ein Blasensprung war. Nach der nun sicheren Gewissheit, dass ihr Kind gestorben ist, fühlt sie erst einmal gar nichts. Sie hört auch nicht mehr, was die Frau in Weiß neben ihr sagt, als hätte jemand beim Fernsehbild den Ton abgestellt. Pause. Sie merkt wie sie gleichmäßig atmet und ist gespannt darauf, wie der Film weitergeht und welche Worte als nächstes zu hören sein werden. Als hätte das alles gar nichts mehr mit ihr zu tun. „So, das war meine letzte Chance“, hört sie ihre Stimme in ihrem Kopf. Ihr ist, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Alles, was sie an Visionen, Bildern hatte, ist schlagartig weg. Das Klischee der harmonischen Familie aus der Margarine-Reklame, die Erwartungen an das Leben mit Kind, an die Beziehung, plötzlich ausgelöscht, verschwunden in einem tiefen, dunklen Loch. Langsam wird wieder der Ton der Ärztin eingeblendet, die sagt, dass man die Geburt einleiten müsse. Geburt? Birte fällt ein, dass das englische Wort für Totgeburt „stillbirth“ heißt. Stille Geburt. Es wird keinen ersten Schrei des Neugeborenen geben.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten in der Schwangerschaft und einer einmonatigen Bettruhe meinte ihr Gynäkologe, dass Birte ruhig wieder arbeiten gehen könne. Eine Schwangerschaft sei ja schließlich keine Krankheit. Zwar hat sie noch Schmerzen im Unterleib, will aber nicht zimperlich sein und vielleicht gehört das zu einer Schwangerschaft ja auch dazu. Schließlich ist es ihre erste und sie kann auf eigene Erfahrungswerte nicht zurück greifen. Nach einer Woche fühlt sie sich wieder gut, glaubt, dass sie und Jens über den Berg sind. Die Blutung kurz darauf nimmt sie nur am Rande wahr, verdrängt sie, will sich dieses zum ersten Mal positive Schwangerschaftsgefühl nicht kaputtmachen lassen. Dann irgendwann in der Nacht, eine Woche später, ist sie aufgewacht mit dem Gefühl, dass etwas in ihr nicht stimmt. Das Gefühl verdichtet sich zur Panik. Sie fährt ins Krankenhaus und liegt jetzt in diesem Raum. Die durch Medikamente künstlich eingeleiteten Wehenschmerzen schütteln ihren Körper, der das Kind noch nicht loslassen will. Eine Schwester fragt durch den Nebel aus Wehen- und Schmerzmittel, ob Birte ihr Kind nach der Geburt sehen möchte. Für Birte ist es in diesem Moment unvorstellbar, das als letztes Bild von ihrem Jungen zu haben: Jens so ganz blutig und unter diesen Umständen geboren. Und irgendwie hat sie auch Angst. Sie schüttelt energisch den Kopf.

Später in ihrem Krankenzimmer, als sich der Dunst aus Narkotika langsam verzogen hat und sie den Krankenhausalltag wahrnimmt, wie sich die Schwestern freundlich um ihr körperliches Wohl bemühen, jedoch jede Bemerkung über den Grund ihres Hierseins peinlichst zu vermeiden suchen, als sei das alles nicht geschehen, wird ihr klar, was sie als Lüge empfand, als sie die Klinik in der Nacht betreten hatte. Sie versteht nun plötzlich ihre eigene Vermutung, „dass hier eigentlich etwas im Dunkeln bleiben soll“. Zwischen all den Maschinen und dem medizinischen Fachwissen, bleibt eine Wahrheit vollkommen ausgespart. Sie wird nicht abgebildet auf dem Monitor, den Pixeln des Ultraschallgerätes. Und sie ist dabei viel realer als das wahrnehmbare Geschehen, die Handgriffe der Ärztin, der Hebammen, der Schwestern. Es ist der tiefe, bleibende Schmerz der Frau. Ihr Schmerz. Gegen den auch keine Medikamente helfen. Sie liegt in ihrem Bett. Das weiße Laken spannt über ihrem Bauch, der ihr plötzlich nutzlos leer und krank erscheint. Sie hat geweint. Ihr Freund ist inzwischen gegangen. Sie ist froh darum, da ganz unterschiedliche Gefühle sie überrennen. Schuld. Die Schuld ihres Lebenspartners, der das Kind nicht wirklich gewollt hat – wie sie ihm jetzt unterstellt. Ihre Schuld. Sie hätte auf ihre innere Stimme hören, im Bett bleiben, nicht mehr zur Arbeit gehen sollen. Und all der Stress. Sie glaubt, sie hat das kleine, schutzlose Wesen überfordert. Ohnmacht. Ja, am schlimmsten empfindet sie die Ohnmacht, nichts mehr für ihr Kind tun zu können, hier zu liegen mit dem nutzlosen Bauch, dem ganzen nutzlosen Körper, der isst, trinkt und ausscheidet, aber nichts Lebendiges hervorbringt. Sie weiß, dass sie das Chaos in ihrem Kopf ordnen, gegen die lähmenden Gedanken angehen, aktiv werden muss.

Sie beschließt, dass Jens beerdigt werden soll, obwohl er unter 500 Gramm wiegt und damit als Fehlgeburt nicht unter die gesetzliche Bestattungspflicht fällt. Zwar bietet das Krankenhaus an, auch die Babys und Föten unter 500 Gramm in Sammelbeerdigungen zu bestatten, aber nur zwei Mal im Jahr. Die nächste Beisetzung ist jedoch erst wieder in einem knappen halben Jahr geplant. Das ist Birte zu spät. Ihr ist die Vorstellung unerträglich, dass ihr Kind so lange in einem weißgekachelten Raum in einem Gefrierfach oder in Formaldehyd liegt. Mit Hilfe von Jutta Bartholemé gelingt es ihr, Jens kurze Zeit später über eine andere Klinik mitbeerdigen zu lassen. Jutta Bartholemé ist nicht nur Hebamme an dem Krankenhaus, in dem Birte Sander entbunden hat, sondern auch eherenamtliche Betreuerin bei der Selbsthilfegruppe „Regenbogen, glücklose Schwangerschaft e. V.“. Die Selbsthilfegruppe unterstützt Frauen und Paare, die ihr Kind kurz vor oder nach der Geburt verloren haben, durch Gesprächskreise, Literatur zum Thema und praktischen Hinweisen.

Einige Tage vor der Beerdigung holt Jutta Bartholemé mit ihrem eigenen Auto Birte von zuhause ab. Auf dem Rücksitz liegt ein kleines Holzkästchen. Darin liegt Jens, den sie kurz zuvor aus der aus der Pathologie geholt hat. Die Hebamme fragt Birte, ob sie das Holzkästchen auf den Schoß nehmen möchte. Birte zögert zuerst, spürt aber, dass es die letzte Chance ist, ihrem Sohn körperlich noch einmal nahe zu sein. Später dann, kurz bevor sie Jens in dem Krankenhaus abgeben, das die Bestattung übernimmt, öffnen sie die kleine Schachtel. Birte betrachtet ihren Sohn das erste und das letzte Mal. Sieht seine dünnen Ärmchen, die kleinen Finger. Das Gesicht. Die Beine. Den Körper.

Auf dem St. Hedwigs/St. Pius Friedhof in Berlin gibt es ein Gräberfeld über das statt dunkle Kreuze bunte Windräder knatternd wachen. Auf den Gräbern tummeln sich Teddybären, einige von Wind und Wetter bereits ein wenig angefressen, Plastikmaikäfer, Puppen, Stoffhunde und Babyspielzeug. Unter einer kleinen, gelben Sonne in der Erde liegt der Sarg, in dem auch Jens liegt. Die Beerdigung war für Birte ein ganz wichtiger Ritus, um eine Form für die eigene Trauer zu finden, Abschied zu nehmen und einen Abschluss für eine bestimmte Trauerphase zu haben. Es war wichtig, Jens noch einmal gesehen zu haben. Denn sich bildlos zu verabschieden ist sehr schwer, weil man gar nicht weiß von wem man sich verabschiedet, sagt sie heute. Obwohl sie den Verlust ganz gut verarbeitet hat und die Phase des körperlichen Schmerzes und der Weinanfälle vorbei ist, ist ein Loch in ihrem Leben geblieben. Besonders schmerzlich für sie ist immer noch, dass ihre Familie, ihr Freund und ihre Bekannten scheinbar mit der Trauer über den Tod von Jens relativ schnell abgeschlossen haben und Gespräche darüber vermeiden. Das macht ihre Trauer, ihren Schmerz unwirklich, als gäbe es keinen Grund, keine Legitimation dafür. Neulich besuchte ein Kamerateam Birte, das einen Film über das Thema „Tod- und Fehlgeburten“ drehte. Als sie relativ gefasst und sachlich ihre Geschichte erzählte, brach plötzlich wieder der alte Schmerz in ihr auf. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie konnte nicht mehr weiterreden. Sie ist sich sicher, egal wie gut die Trauer aufgearbeitet wird: Der Schmerz bleibt. Nicht mehr so heftig wie am Anfang. Doch er bleibt.

[1] Name von der Redaktion geändert
[2] Name von der Redaktion geändert