Rheinischer Merkur, Nr. 7 - 2001

Jugendstrafe / In Berlin setzen Polizei und Staatsanwalt auf persönliche Wiedergutmachung

Anschrauben, Max!
Kleine Diebe, Hehler und Schwarzfahrer sollen fühlen, dass die Strafe auf dem Fuße folgt. Das Verfahren ist vor allem für Ersttäter eine Chance.

Der Hinterhof im Berliner Prenzlauer Berg ist eine Falle aus schmutzigem Backstein. Kegellicht. Blendend. Max hebt die Hände schützend über die Augen. Weiß. "Flitzen oder stehenbleiben?", schießt durch seinen Kopf. Er hört einen der Männer hinter den Autoscheinwerfern rufen: "Polizei!" - Es sind mindestens vier Polizisten hinter den Scheinwerfern der zwei Kleinbusse. Max überlegt, ob er die Hände über den Kopf heben soll. Jetzt nicht an Paul Muni in Scarface denken. Die Polizisten sind höflich. Sie nehmen ihm seinen Rucksack ab und fragen ihn, was er hier in der Dunkelheit an den Fahrrädern zu schaffen hat. Erwischt - auch der 15jährige Bruder von Max, der Schmiere gestanden hat. "Nicht den Knirps", denkt Max noch. In seinem Rucksack finden die Beamten unter anderem zwei chromblitzende Fahrrad-Kurbelgarnituren, eine Fahrradkette und eine Gangschaltung samt Schaltwerk, das zweitteuerste von Shimano. Außerdem Werkzeug, Imbusschlüssel, Knochen und Bolzenschneider. "Mit dem Fünfer Imbusschlüssel schafft man fast jedes Mountainbike", sagt Max, der eigentlich gar nicht Max heißt, aber so genannt werden will, weil er im Moment genug Ärger am Hals hat und da nicht noch in einem Zeitungsartikel als Fahrraddieb auftauchen möchte. Max und sein Bruder werden mit auf die Wache genommen. Für die Polizisten ist das Routine, für Max und seinen Bruder ein Schock: "Ich kam mir vor wie ein richtiger Verbrecher."

"Der Schock hält jedoch in den meisten Fällen nicht allzu lange an." Doris Nithammer ist Psychologin. Trotz "normenverdeutlichendem Gespräch" durch die Polizisten - wie das im Juristendeutsch heißt - verblaßt das Erlebnis meist wieder ziemlich schnell. Das Unrechtsbewußtsein der Jugendlichen ist bei dieser Art Straftaten meist nur kurzfristig vorhanden - wenn überhaupt. Max ist ein langer, dünner, junger Mann mit Bürstenschnitt und Brille. Gymnasiast, 18 Jahre alt, ein wenig schüchtern. So hat ihn auch Doris Nithammer erlebt, als er das erste Mal zu ihr ins Büro kam. Doris Nithammer ist Diversionsmittlerin. Ihr Job ist es, mit jugendlichen Straftätern, die sich dazu bereiterklären, ein erzieherisches Gespräch zu führen oder sich gemeinsam mit dem Jugendlichen zu überlegen, wie er das, was er angerichtet hat, wieder gut machen kann oder wie zumindest in Zukunft erneute Verstöße gegen das Gesetz zu vermeiden sind. Ihre Arbeitsstelle sind die Diversionsbüros des Sozialpädagogischen Instituts Berlin (SPI). Die drei Büros sind jeweils in einem der Gebäude von drei der insgesamt sieben Polizeidirektionen der Hauptstadt untergebracht.

Das Paul-Muni-Gefühl ist wieder da. Max ist auf der Wache. Die Personalien werden festgestellt, die Fingerabdrücke genommen. Er denkt kurz an Howard Hawks Gangsterfilmklassiker Scarface von 1932, den er neulich nachts im Fernsehen gesehen hat. Scarface ist die Geschichte Al Capones und Muni spielt Tony Camonte als psychopathischen Prototypen des Idealisten und Tatmenschen, der seine persönlichen ethischen Codes gegen die Gesetze einer häßlichen und korrupten Gesellschaft durchzusetzen sucht. "Ich stehe auf der anderen Seite", denkt Max beim Verhör. Nicht auf der, wo seine Eltern stehen. Der Kommissar ist nicht mehr ganz so höflich wie die Polizisten. Kaltes Neonlicht. Die Eltern sind nicht erreichbar. Maxs Onkel wurde verständigt. Er wartet jetzt draußen auf einer blankgerutschen Holzbank. Max weicht dem Blick des Onkels aus. Der ist ein wenig hilflos, weiß nicht so recht wie er sich in der Situation zu verhalten hat. Er ist wütend und die ganze Sache ist ihm gleichzeitig peinlich. Kein Wort reden Max und der Onkel miteinander. Max ist froh. Denn was versteht der Onkel schon vom Leben? Der Onkel nimmt den kleinen Bruder mit nach Hause. Max verbringt die Nacht in einer kalten, gekachelten Zelle auf einer Holzpritsche ohne Kissen und Decke. "Verdunklungsgefahr" begründet der Kommissar. Die Hose rutscht, weil er seinen Gürtel abgeben mußte. Am nächsten Morgen sind die Gelenke steif, dafür die Beamten freundlicher. Einer der Polizisten macht Max auf die Möglichkeit aufmerksam, am Diversionsverfahren teilzunehmen.

"Wir haben einen Weg gesucht, wie man eine erzieherische Maßnahme jenseits einer richterlichen Anordnung herbeiführen kann." Victor Weber ist Oberstaatsanwalt und stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Richterbundes. Er sitzt in seinem Weddinger Büro mit Blick auf die S-Bahn. "Ziel der Berliner Diversion ist es, die Täter möglichst schnell nach der Tat eine Reaktion der Gesellschaft fühlen zu lassen." Nach einer kurzen Pause betont Weber mit sanfter Stimme: "Reaktion, keine Sanktion." Das Prinzip des Jugendstrafrechts gründet sich auf Prävention und Erziehung, nicht auf Bestrafung, erläutert der Jurist. Die schnelle Reaktion soll dem Jugendlichen verdeutlichen, dass seine Tat nicht folgenlos verhallt, dass sie auf Ablehnung stößt. Bei herkömmlichen Verfahren können sich die Delinquenten oft gar nicht mehr an den Vorfall erinnern, wenn sie vor dem Richter stehen. Denn zwischen dem Zugriff der Polizei und dem eigentlichen Gerichtsverfahren, wenn es denn dazu kommt, liegen zwei Monate bis zu einem halben Jahr.

Max wohnt noch zuhause. Die Mutter arbeitet bei der AOK, der Vater ist seit einigen Wochen arbeitslos. Nach der ersten Gardinenpredigt, vermeidet Max Gespräche mit den Eltern. Die sind überfordert. "Seit dem Vorfall kommen sie öfter als früher unangemeldet in mein Zimmer", sagt Max. Eindruck macht das neue Verhalten seiner Eltern keinen. Zu dem mißglückten Diebstahl am Wochenende hat Max ein ambivalentes Verhältnis. Zum einen hat er Angst, dass es zu einem Gerichtsverfahren und einer Verurteilung kommt: "Dann kann ich mir einen Job bei der Bundeswehr abschminken wegen der Eintragung im polizeilichen Führungszeugnis." Außerdem bedauert er, dass er seinen kleinen Bruder mit in die Sache reingezogen hat. Zum anderen aber: "Das war nun echt kein großes Ding", sagt er und fügt hinzu, dass er die Fahrradteile ja nur bei ganz teueren Rädern abgebaut hätte. Also von Leuten, die den Verlust lässig verkraften könnten. Aus Maxs Stoppelfrisur wächst eine grüne Mütze mit einer langen Feder daran. Damit sieht er aus wie der Robin Hood vom Prenzlauer Berg. Eine recht lächerliche Erscheinung. Das merkt er wohl auch und wischt mit seiner nächsten Bemerkung das Bild aus dem Kopf: "Ok, klar habe ich die Fahrradteile für mich geklaut oder zum Tauschen mit Kumpels. Aber wenn du Downhill in den Müggelbergen fährst, geht schon die eine oder andere Kurbelgarnitur, die Felgen, Innenlager oder Gabel über den Jordan." Und die Teile, vor allem die guten, sind teuer.

Die Psychologin ist jung. Max schätzt sie auf maximal Dreißig. "Bringen wir es hinter uns", denkt Max. Er hat sich vorgenommen, den reuigen Sünder zu spielen."Was könntest du dir vorstellen zu tun, um den Schaden, den du angerichtet hast wieder gut zu machen", sagt Doris Nithammer. Die Frage wirft ihn aus seinem Konzept. Er hatte sich auf die passive Rolle des geständigen und einsichtigen Sünders eingestellt und jetzt soll er einen eigenen aktiven Beitrag leisten: " - Na die Sachen wieder anschrauben. Vielleicht auch mich entschuldigen." Bis jetzt hatte Max überhaupt noch nicht an die Leute gedacht, denen die Fahrräder gehören. Es ist ihm ein wenig mulmig bei dem Gedanken, den Besitzern gegenüberzutreten. Wie werden sie reagieren? Dass sie auf Max sauer sind, ist klar. "Gut. Da muß ich jetzt durch," denkt er. "Da mußt du jetzt durch", sagt Doris Nithammer.

Max steht vor der Wohnungstür. Am Telefon war die Frau ganz nett. Sie hat überhaupt keine Moralsoße über Max gekippt und einen Termin mit ihm ausgemacht, wann er die Fahrradteile wieder anschrauben kann. Der erste Eindruck vom Telefon bestätigt sich. Sie bittet ihn in die Wohnung. "Wir haben uns richtig gut unterhalten", sagt Max. "Mir war die Situation total peinlich. Sie hat mir ganz viel aus ihrem Leben erzählt." Die Wohnung ist in einem Altbau, nett, gemütlich, auf keinen Fall luxuriös. Um ein schlechtes Gewissen zu haben, ist Max viel zu angespannt. "Ich war ziemlich froh, als ich dort fertig war." Die zweite Begegnung wird schwieriger. "Als ich den Zettel von der Polizei an meinem Fahrrad las, war ich ersteinmal stinkesauer auf den Typ, der die Teile abgeschraubt hat." Heide Wegart ist 31 Jahre alt, studiert Sonderschulpädagogik und ist auf ihr Fahrrad angewiesen. Auf dem Zettel las sie, dass Teile von ihrem Fahrrad abgeschraubt, aber sichergestellt wurden und sie diese bei der Polizei in Hohenschönhausen abholen könnte. "Das ist am anderen Ende von Berlin," ärgerte sich die Studentin. Der Weg dorthin kostet Zeit, die Fahrradreparatur Geld. Alles Dinge, von denen die alleinerziehende Mutter nicht allzuviel besitzt: "Erst in dem Moment, in dem die Person, die das getan hatte, ganz konkret vor mir stand, verflüchtigte sich der Ärger."

"Was mich umgehauen hat; die haben mich alle gar nicht wie einen Verbrecher behandelt, sondern eher wie einen Bekannten." Das Film-Weltbild von Max bekommt Risse. Das Paul-Muni-Gefühl relativiert sich. Das mit den richtigen und falschen Seiten ist nicht mehr so einfach. Das Leben ist kein Schwarz-Weiß-Film und die Erwachsenenwelt nicht deckungsgleich mit der des Onkels oder der Eltern. Das Protokoll von Doris Nithammer liegt jetzt bei der Staatsanwaltschaft. Max wartet auf dessen Entscheidung. Obwohl er das Diversionsverfahren ganz positiv erlebt hat, wie er sagt, und sich eigentlich auch ganz gute Chancen ausrechnet, ohne Gerichtsverfahren und Verurteilung davonzukommen, ist da noch ein dunkler Fleck, der Max in der Seele klebt wie Teer. Die Polizisten, die ihm die Fingerabdrücke genommen haben, hätten erzählt, dass sie die jetzt mit den Prints vergleichen, die von den unaufgeklärten Raddiebstählen in ihrem Computer liegen. Er hat dann - rein hypothetisch, versteht sich - einen Plan von Berlin gemacht und darüber nachgedacht, wo überall seine Fingerabdrücke auftauchen könnten. Rein hypothetisch. Auf alle Fälle hat er entschieden, dass er seine Finger von fremden Fahrrädern lassen wird. "Mich interessiert es nicht, wieviel einer schon angestellt hat", sagt Oberstaatsanwalt Victor Weber. "Mir ist wichtig, dass er damit aufhört."

Text: © Martin Fensch / Matthias Zuber / polyeides medienkontor

 

Mit Erfolg umlenken

Seinen Ursprung hat das Wort "Diversion" im lateinischen Verb "divertere", "zerstreuen". Das englische "to divert" steht für "ablenken" oder "umleiten". Im Strafrecht bedeutet Diversion, auf einen gerichtlichen Prozess und eine Verurteilung zu verzichten: Der Staatsanwalt erhebt keine Anklage, die Reaktion auf die Tat wird im Sinne einer informellen Lösung umgelenkt. In Berlin beauftragte der Senat das Sozialpädagogische Institut (SPI), eine Stiftung der Arbeiterwohlfahrt und ein gemeinnütziger Träger für Sozialarbeit in Berlin und Brandenburg, zur Durchführung des Diversionsverfahrens. Bevor den jugendlichen Straftätern die Teilnahme an dem Verfahren angeboten wird, hält der zuständige Polizeibeamte Rücksprache mit dem Staatsanwalt. Wenn der den Fall für geeignet hält, gibt er seine Zustimmung. Vor allem Ersttäter bekommen die Chance bei Delikten wie Diebstahl, Unterschlagung, Hehlerei, bei geringfügigen Schäden, Betrug, Schwarzfahren, Beleidigung und leichter Körperverletzung. Die Diversionsstelle führt mit dem Jugendlichen ein erzieherisches Gespräch oder entscheidet sich gemeinsam mit dem Jugendlichen für eine erzieherische Maßnahme. Anschließend verfaßt der Diversionsmittler, ein Sozialpädagoge oder Psychologe, ein Protokoll über die Arbeit, das an die Staatsanwaltschaft geht. Der Staatsanwalt entscheidet dann, ob die Maßnahme für eine Verfahrenseinstellung auf der Grundlage von Paragraph 45 Absatz 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) reicht oder nicht. Es gibt keine Garantie für einen positiven Ausgang der Diversion. Aber sie ist eine Chance. Das Diversionsverfahren gibt es in Berlin seit Ende März 1998. Seitdem durchliefen über 500 Jugendliche das Verfahren. Etwa 85 Prozent aller Verfahren konnten aus Sicht der Mittler erfolgreich abgeschlossen werden. Die übrigen 15 Prozent scheiterten aus unterschiedlichen Gründen: 17 Jugendliche erschienen trotz Anmeldung nicht im Diversionsbüro. Neun weitere beendeten das laufende Diversionsverfahren von sich aus. Im Fall von zwei Ladendieben wurden die Diversionsbemühungen von den Geschädigten abgebrochen. Die beiden wurden während ihrer "Wiedergutmachung" in Form freiwilliger Arbeit in dem betroffenen Geschäft rückfällig. In acht Fällen lehnten die Diversionsvermittler eine Fortführung des Verfahrens ab. In vier Fällen jedoch nur, weil es sich um Bagatellkriminalität handelte, die nicht weiter geahndet worden wären. Nur zwei Mal wurde trotz eines beendeten Diversionsverfahren Anklage erhoben. In beiden Fällen hielt die Staatsanwaltschaft die durchgeführte Diversionsmaßnahme für nicht ausreichend. Die erfolgreichen Diversionsverfahren waren durchschnittlich 52 Tage nach der Strafanzeige beendet. Sowohl das SPI wie Oberstaatsanwalt Victor Weber betonen, dass noch zu wenige Diversionsverfahren durchgeführt werden. Ein Grund hierfür sei die unterschiedlich große Akzeptanz des Diversionsverfahrens bei der Polizei.