Die Woche, 18.09.1998

Rum für die Ohren

Kubas Exportschlager sind die Senioren des Son. Mit Compay Segundo kommt jetzt der älteste Popstar der Welt nach Deutschland

Die Gegend, aus der Compay Segundo kommt ist heiß. Nicht ganz so heiß wie die Hölle, doch heiß genug, um die Seelen von Zeit zu Zeit überkochen zu lassen. Fast alle Revolutionen auf Kuba begannen hier. 1511 kämpft der Indianerhäuptling Hatuey gegen die Conquistadores, es folgen Sklavenaufstände und Revolten. Carlos Manuel de Céspedes versucht 1868 die Spanier von der Insel zu fegen, was im Laufe der Unabhängigkeitskriege 200.000 Kubaner das Leben kostet. Auch Fidel Castros Revolution startet hier. Die Gegend heißt "Oriente" und ist für das hitzige Temperament ihrer Bewohner bekannt. Der richtige Nährboden für Revolution und --- Musik.

"Gute Musik ...", sagt Compay Segundo und summt ein kubanisches Volkslied. Der alte Mann mit der gegerbten, dunklen Lederhaut und dem Clark-Gabel-Bärtchen dreht spielerisch eine "Monte-Christo-Nummero Quatro" zwischen seinen Fingern hin und her. Die Fingerkuppen sind von der Arbeit in Upmanns Zigarrenfabrik und dem Gitarrespielen fest und hart. Compay ist in "Oriente" geboren - genauer: in Siboney in der Nähe von Santiago de Kuba, "der Wiege des Son", wie sich die Stadt im Südosten der Insel stolz nennt. Er ist mit dieser Mischung aus west-afrikanischen, indianischen und spanischen Rhythmen groß geworden und war in den 40er Jahren eine lokale musikalische Berühmtheit. Der "Grandseigneur der kubanischen Volksmusik", wie ihn die spanische Zeitung "El Pais" nennt, verschwand dann Ende der 50er von der Bildfläche und viele seiner Landsleute hielten ihn für tot.

Ende August wäre es fast soweit gewesen. Wegen einer Bombendrohung musste Compay Segundos Konzert in Miami für 30 Minuten unterbrochen werden. Ein paar irre Exilkubaner hatten aus Protest, kubanische Musiker würden mit ihren Einnahmen das Castro-Regime stützen, die Unterbrechung seines Konzerts erzwungen. Dass es überhaupt soweit kommen konnte, hat Compay in erster Linie Ry Cooder zu verdanken. Der Gitarrist und Weltmusikfan versammelte vor zwei Jahren Kubas Musiklegenden auf der CD "Buena Vista Social Club". Über eine Million Mal verkaufte sich die Reminiszenz an die großen Tage der kubanischen Volksmusik.

Seitdem sind Compay Segundo und seine betagten Kollegen internationale Showstars. Im Februar bekamen sie einen Grammy verliehen, die höchste Auszeichnung der amerikanischen Musikindustrie. Ihre faltigen Papiergesichter mit der freundlichen Coolness einer längst vergangenen Epoche flirten jetzt auch von deutschen Plakatwänden und sorgen für ein bisschen Karibikflair im verregneten Sommer. Gerade war Ruben Gonzales hier, der 80jährige Pianist des Buena Vista Social Clubs, gefeiert von Fans und Feuilletons. In den vergangen beiden Monaten tourten die "Afro Cuban All Stars" mit Ibrahim Ferer durch die Republik. Und jetzt kommt Compay Segundo. Er ist mit 90 Jahren der älteste Star des Seniorenclubs.

Love, peace and harmony - die Welt wiegt sich im Son-Rythmus. In Japan wirbt Mercedes mit Compay Segundos Hit "Chan Chan" für seine Luxusschlitten, Wim Wenders drehte eine Dokumentation über den "Social Club" fürs Kino und auf MTV flimmert Segundos Videoclip. Kuba ist hip und der Son ein Verkaufsschlager. Der Trend lebt vom morbiden Charme der Karibikinsel, der Melancholie und dem We-Are-One-World-Image der kubanischen Volksmusik. Vor über 100 Jahren sollen Wanderarbeiter den Son von den Zuckerrohrfeldern Orientes, der südöstlichsten Region Kubas und Compays Heimat, mit nach Havanna gebracht haben. Er entwickelte sich schnell zu einer Art kubanischen Nationalmusik. Entstanden als Mischung aus den Ruf-und-Antwort-Gesängen afrikanischer Sklaven, spanischer Lyrik und Gitarrenmusik vereinte er die Menschen verschiedener Hautfarbe zu Kubanern und begeistert jetzt die Fans rund um die Welt. "Der Son ist musica mulata - Mulattenmusik - die Verschmelzung von Europa und Afrika in Kuba. In seinen synkopierten Rhythmen und hämmernden Wiederholungen spiegelt sich unsere Seele," schrieb der kubanische Nationaldichter Nicolás Guillén. Son sei - so der Poet - "klingender Rum, mit den Ohren zu trinken". Ob Salsa, Mambo, Cha Cha Cha oder Latin Jazz, überall schwingt der Son mit. Sogar im Techno, wie in Chichi Peraltas "Pa Otro la'O" aus dem Caiman Label, lebt die Musik aus Oriente fort. Und natürlich in Compay Segundos Liedern.

Er sitzt in einem beigen Sessel mit Kunstlederapplikationen und nimmt einen Zug aus der daumendicken "Monte-Christo". Draußen lärmt "Centro Habana". Nach einer Weile kriecht der hellgraue Rauch aus seinem Lächeln zwischen den makellosen weißen Zahnprothesen hervor und verflüchtigt sich Richtung Tür. Er blickt den Besucher an. Die faltigen Augenlieder lassen nur zwei schmale, dunkle Sehschlitze unter den lichten, hellgrauen Brauen erkennen. "Ein Krokodil", denkt der Besucher. Eines jener Tiere, die die Evolution vergessen hat. Ein Relikt aus einer längst untergegangenen Zeit, das ihn mit Ehrfurcht erfüllt.

Compay Segundo nimmt den plötzlichen Trubel um den Son und seine Person mit der Gelassenheit eines Mannes, den nichts mehr erschüttern kann. "Ich bin seit mehr als einem halben Jahrhundert Musiker", sagt er. Die Aufnahmen mit Ry Cooder hätten ihm großen Spaß gemacht, aber dass ihm der Gringo die Tore zur Welt geöffnet hätten, das stimme nun auch nicht so ganz. Sein Comeback hatte er bereits 1989, als ihn der Musikwissenschaftler Danilo Orozco zum "Traditional American Culture Festival" ans Smithonian Institute nach Washington holte. Seitdem ist Francisco Repilado, wie Compay mit bürgerlichem Namen heißt, auf Tour und zwar international. Eine gewisse Befriedigung liegt bei dieser Feststellung in seiner Stimme. 1994 zum Beispiel war er einer der Stars auf dem "First Son and Flamenco Festival" im spanischen Sevilla. Noch vor der Zusammenarbeit mit Cooder nahm er sogar ein eigenes Album mit dem Titel "Anthology" auf. Auf Kuba war Compay schon lange vor Cooder eine Legende. Sehr lange vor Cooder.

Damals 1934 geht Francisco Repilado von Siboney, seiner Geburtsstadt, nach Havanna. Er spielt Gitarre, Tres, Klarinette und singt. 1936 die erste Schallplatte. Er spielt bei berühmten Bands und wird selbst berühmt. Es ist die große Zeit des Son. Havanna ist eine glitzernde Metropole. Die Zuckerpreise auf dem Weltmarkt ermöglichen der kubanischen "Hautevolee" ein sorgenfreies und luxuriöses Dasein. Man vergnügt sich in den Country-Clubs in Miramar, den Bars in der Altstadt oder in den Dance-Halls in der Nähe der gerade fertiggestellten Uferprommenade, dem Malecón. Die erste Auslandstournee: sechs Monate Mexiko. Er spielt in zwei mexikanischen Filmen mit. Er ist oben. Zum ersten Mal. Er nennt die Legende Beny Moré, für seine Landsleuten der "Sonero Mayor", einen Freund und wird selbst Legende. 1942 gründet Francisco zusammen mit dem Sänger Lorenzo Hierrezulo das Duo "Los Compadres". Francisco spielt Gitarre und singt die zweite Stimme. Seitdem heißt er "Compay Segundo": "Compay" ist die kubanische Abkürzung für "Compadre" und "Segundo" bedeutet "der Zweite". Der Höhenflug dauert an, auch nach der Auflösung der "Compadres". Im März 1957 ist Compay mit seiner neuen Gruppe "Compay y su Grupo" im Studio und nimmt zwei Lieder auf "La Juma de Ayer" und "La Mujer de Peso". Draußen greifen bewaffnete Studenten den Regierungspalast von Diktator Batista an. Die Gewehrschüsse sollen sogar auf der Aufnahme zu hören sein.

"Nach der Revolution wollte niemand mehr die Nächte durchfeiern", sagt Compay. Schlechte Zeiten für Musiker! Nein das nicht. Das Gegenteil sei wahr. "Was die Musik betrifft, so hat sie von der Revolution nur profitiert. Heute gibt es viele Musikschulen in Kuba. Ich mußte die Musik noch auf der Straße lernen", sagt Compay und verschweigt, daß die gutausgebildeten Musiker nach ihrem Studium meist dort sitzen, wo Compay die Musik erlernt hat: auf der Straße. Die spanische Plattenindustrie schätzt, daß es auf Kuba etwa 12.000 exzellente Musiker gibt, die keinen Job haben und sich mit Taxifahren und als Restaurant-Musikanten durchs Leben schlagen. Ihm selbst hat die Revolution nichts gebracht. Compay arbeitet als Friseur und in Upmans Zigarrenfabrik. Siebzehn Jahre lang rollt er Kubas Exportschlager. Sein Verhältnis zur Politik? Er sei eher unpolitisch, eben ein Musiker. Nebenher bemerkt; ein verdienter Musiker. Am 15. November 1996 bekommt Compay den "Orden Felix Varela", eine der höchsten Kulturauszeichnungen Kubas, im National Theater in Havanna verliehen.

Compay Segundo scheint von seinem eigenen Leben nicht besonders beeindruckt zu sein. "Ups and downs", sagt er lakonisch, nichts Besonderes. Er erzählt von seiner letzten CD "Lo Mejor De La Vida" ("Das Beste des Lebens"), der besten, die er jemals gemacht habe. Dabei zieht er genüßlich an seiner Zigarre. Sicher, seit dem Erfolg des Social Clubs gibt er Interviews für Zeitschriften, deren Namen er noch nie gehört hat. Ständig stehen Fotografen und Kamerateams in dem Apartment des alten zweistöckigen Hauses Ecke Calle Salud und Oquendo im Zentrum Havannas, das eigentlich seinem Sohn Salvador Repilado gehört. Er selbst hat in der Hauptstadt keine Wohnung. Nur in Siboney. Warum auch? Bei Salvador trifft er sich mit seiner Band Compay Segundo y sus Muchachos zum Üben und wenn er keine Journalisten mehr sehen will, geht er zum Schlafen zwei Häuserblocks weiter. Da wohnt la novia, seine Verlobte. Sie ist etwa 60 Jahre jünger und der "Stern in seinem Leben". Und das Geld? Was macht er mit dem ganzen Geld, das er durch den Buena Vista Social Club verdient hat? Nun, das sei in seinem Alter wirklich nicht mehr wichtig. Er lebe ja sehr gut, reise und sieht die Welt. Erst vor ein paar Wochen war er in New York. Der CD-Erfolg katapultierte ihn direkt in die Carnegie Hall. Innerhalb von drei Tagen war das Konzert ausverkauft. Business as usual? "Es war ein Konzert!" In Wirklichkeit war es ein Triumph. 2760 Menschen brüllten seinen Namen und trampelten auf den Boden.

Ein Reptil, das die Geschichte kaum mehr berührt, denkt der Besucher. Einer, der alles erreicht und sein Versprechen gehalten hat: "Yo Vengo Aqui" ("Hier komme ich"). So hieß das erste Lied, das Compay Segundo mit 15 Jahren geschrieben hat. Jetzt ist er wieder da. Ganz oben. Was soll noch kommen? Mehr Geld, mehr Ruhm, mehr Monte Christos? "Ich möchte 115 werden, wie meine Großmutter." Am 18. November kommt er seinem Ziel wieder ein Stück näher. Dann wird er 91. Das Reptil fletscht die weißen Prothesen zu einem Lächeln.

Text: © Matthias Zuber / polyeides medienkontor

Foto: © Christiane von Enzberg