Berliner Zeitung, 11.12.1997

Warte nur, dann fügt es sich

Der neue Film von Mati Findel "Alle Zeit der Welt"

In Tibet verhalten sich die Menschen Hunden gegenüber anständig. Deshalb haben die Hunde in Tibet überhaupt nichts Hündisches an sich, wie hier bei uns in Mitteleuropa. Tibeter Hunde wirken seltsam abgeklärt, souverän und manchmal sogar weise. Die Tibeter glauben, daß ein Geistlicher, ein Lama, der im Leben ein Säufer war, als Hund reinkarniert wird. Vielleicht ist da etwas Wahres dran. Der Hund in Matl Findels Film "Alle Zeit der Welt" jedenfalls kommt aus Tibet und scheint Einsicht in den metaphysischen Bauplan der Welt zu haben.

Er betrachtet das Geschehen um sich herum aus abgeklärter Distanz und führt durch seine bloße Existenz zusammen, was zusammen gehört. Matthew (Matthew Burton), der australische Pilot, der ihn mit nach Berlin gebracht hat, wurde von seiner Freundin verlassen und muß sich nun ganz alleine um die kleine, gemeinsame Kneipe kümmern. Lilith (Ruth Vaughn), gerade aus London in Berlin gestrandet, ist auf der Suche nach einem Visum für die Mongolei und einem Sponsor für ihre Ein-Frau-Expedition zu einer seltenen Bärenart in der mongolischen Wüste. Matthew braucht eine Frau und Lilith, die sich von ihrem Freund getrennt hat, einen Mann und ein Visum, das ihr Matthew besorgen kann.

Wie Matthew und Lilith finden die fünf Charaktere in "Alle Zeit der Welt" scheinbar von unsichtbaren Fäden geleitet zueinander. Der Allgäuer Anton (Jockel Tschiersch), Eishockey-Torwart von Beruf, hat einen Hirntumor. Das verbleibende halbe Jahr will er nützen, um ein neues Leben zu beginnen. Toost (Josepha van der Schoot) inszeniert in Berliner Parks fragile, vergängliche Kunstobjekte aus Blättern, Ruten oder dünnen Eisblättchen. Radka (Juana Broukova) versucht, sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen. Die fünf Handlungsstränge berühren sich, kreuzen einander und für Augenblicke entsteht im Chaos des Alltags so etwas wie eine Welt der Harmonie. Eine Welt, von der Ilja Iljitsch Oblomow auf seinem Petersburger Diwan träumte. Liliths Überzeugung: "Man muß nur warten, dann fügt sich alles zusammen", hätte auch aus dem Munde des russischen Aristokraten in Gontscharows Roman stammen können. Matthews Kneipe wird für einen Abend zum Oblomow`schen Ideal, wenn die fünf aufeinandertreffen und gemeinsam eine japanische Reisegruppe mit "typischen Berliner Spezialitäten", wie Käsefondue und tschechischem Gesang, verwöhnen.

"Der Film gehört zur selben Kategorie von Vergnügen, wie still auf einer Parkbank zu sitzen und den Leuten bei ihrem Leben zuzusehen", sagt der Berliner Regisseur Findel, der vor drei Jahren sein Studium an der Deutschen Film und Fernsehakademie Berlin abgeschlossen hat und mit "Alle Zeit der Welt" seinen ersten Langfilm vorlegt. Nicht die Handlung, sondern die Haltung eines Films interessiere ihn. Handlungen ließen sich auf einige wenige Grundmuster reduzieren, wie zum Beispiel: "boy meets girl". Das ist langweilig. Nicht das "Was", sondern das "Wie", das, was sich hinter und zwischen der Handlung abspielt, interessiert Findel. Er zeigt Alltag; kleine Fragmente, die im Fluß der Gewohnheit, im Rauschen der medialen Zeichen unterzugehen drohen. Darin gleicht er Michael Haneke, der in seiner Trilogie ("Der siebte Kontinent", "Bennys Video" und "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls") immer wieder Alltagsdetails aus der Abgestumpftheit modernen Lebens über die Großaufnahmen in die Hirne der Zuschauer brennen will, um die "Vergletscherung des Sozialen" ins Bewußtsein zu holen. Dagegen zeigt Findel nicht die düstere, kalte, die tödliche Seite der Alltäglichkeit, sondern Details des Lebens jenseits der glatten, schnellen Bilder, die im Strom der Geschäftigkeit übersehen werden, untergehen.

Wie Toosts Kunst, die sich an Arbeiten von Andy Goldsworthy orientiert, macht Findel auf fragile, vergängliche Situationen aufmerksam, lehrt den schweifenden Blick des Parkbank-Be-Sitzers. Während sich Matthew und Lilith unterhalten, spielen im Hintergrund Kinder unter einem mächtigen Baum. Mit langen Stöcken schlagen sie gegen die Äste, bis plötzlich ein Moped krachend zu Boden fällt. An anderer Stelle wird ebenso beiläufig der aufrechteste Suizid der Filmgeschichte gezeigt. "Alle Zeit der Welt" ist ein Wahrnehmungspuzzel, eine Art Sehhilfe, die den Blick wieder frei für Entdeckungen machen will; ein Film der optimistisch apostrophiert, daß es ein richtiges Leben im falschen geben kann. Mitunter jedoch gerät Findels Optimismus zur schmerzenden Naivität, wenn sich alles nach "metaphysischen Plan" gar zu gut ineinander fügt. Manchmal überschreitet er dann sogar die Grenze zur Peinlichkeit, wenn er Antons Wandlung zum neuen Leben gar zu plakativ beschreibt oder die Akteure reden läßt, wo die Bilder das Gesagte viel besser alleine transportiert hätten. Und dennoch, trotz der Mängel, besitzt "Alle Zeit der Welt" den Zauber einer erlösten Oblomow´schen Welt, von der entfremdete Stadtmenschen und Tibeter Hunde manchmal in einsamen, kalten, sternklaren Nächten träumen.

Text: © Matthias Zuber / polyeides medienkontor