Süddeutsche Zeitung, 16.11.1995

"Adenauer hat das Denken der gesamten Nation bestimmt"

Ein Gespräch mit Joachim Kaiser über große und kleine Epochen und über die Menschen, die Epochen machen.

Das Kino und Ernst Jünger sind 100 Jahre alt geworden. Die Stunde Null und die Süddeutsche Zeitung 50. Wir feiern in diesem Jahr ein Jubiläum nach dem anderen, Epochen beginnen, Epochen enden. Doch was ist eine "Epoche", wer macht "Epochen"? Matthias Zuber sprach mit dem Münchner "Kulturpapst" Joachim Kaiser.

Frage: Was macht eine Epoche zur Epoche?

Kaiser: Die Epoche ist ein Begriff, der mehr mit dem Subjekt, das einen bestimmten Zeitraum überschaut, zusammenhängt, als mit der Zeit selbst. Die Einteilung der Zeit in bestimmte Abschnitte oder Epochen entspringt der menschlichen Vorstellung, dem Verstand, der - so glaube ich - in sich die Notwendigkeit trägt, Dinge teleologisch sich vorzustellen. So teilen wir auch unser Leben in verschiedene Zeitabschnitte ein: die Kindheit, die Jugend, die Adoleszenz, das Alter. Das heißt: wir denken in Epochen. Die Epoche ist ein Ordnungsprinzip. Das ist das eine. Das andere, was zur Epoche gehört, ist der Begriff der Wiederholung und des Festes. Das Jahr wiederholt sich anhand verschiedener, konstanter Feste, wie zum Beispiel: Ostern, Weihnachten und Sylvester. In dem Wort "Fest", das aus dem Lateinischen kommt, schwingt bereits dieser Doppelsinn "einst" mit. Das war einst so und das wird wieder so sein.

Frage: Wer setzt aber die Termine für diese immer wiederkehrenden Festivitäten und wie erreicht man, daß diese Termine innerhalb eines Kulturkreises respektiert werden?

Kaiser: Ob nun München tatsächlich 800 oder 900 Jahre alt ist, ob der Gründungstag tatsächlich der Gründungstag ist, ob all diese Daten wirklich stimmen, ist nicht gewiß. All das ist den Historikern und einer gewissen Willkür unterworfen. Das zeigt aber doch, daß ein Bedürfnis für die Menschen besteht, epochale Begrenzungen und Verläufe zu sehen und daß sie sich manchmal auch feiern wollen. Es hat einmal jemand gesagt: die Geschichte ist die Sinngebung des Sinnlosen. Das ist zu hart. Das ist zu relativierend. Aber daß ein gewisser Wille besteht, Wiederholungen, die im menschlichen Leben und auch im Leben von Institutionen vorkommen, zu Epochen zu machen, das ist ganz klar.

Frage: Zum einen ist also die "Epoche" eine anthropologische Prämisse, da unser Denken apriori auf eben diese teleologische Weise ausgerichtet ist.

Kaiser: Ja.

Frage: Und zum anderen ist der Epochenbegriff dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch gewisse Ereignisse in der Zeit mit Bedeutung auflädt; und durch die Wiederkehr dieser bedeutenden Ereignisse, bzw. deren Jahrestage, entsteht eine Art Ordnung, eine Struktur der Zeit?

Kaiser: Genau. Doch das ist das abstrakte Epochennetz. Wir sind um der Gliederung willen gezwungen, in Epochen zu denken, sonst wäre alles Chaos. Zu diesem vorgegebenen Prostratum des Epochendenkens und Epochenwollens kommt natürlich das tatsächlich große, einschneidende Ereignis, von dem ab sich etwas ändert. Zum Beispiel Christi Geburt. Oder die Welt vor der Sintflut und die Welt nach der Sintflut, die Welt vor Hitler, während Hitler und nach Hitler. Das sind - weiß Gott - Einschnitte.

Frage:Welche Einschnitte, welche Epochen sehen Sie hier in Deutschland nach Hitler?

Kaiser: 1945 - Sie wissen, ich bin Jahrgang 1928 - ich war also damals 17 Jahre alt. Für mich war das Jahr 1945 nichts anderes als ein ungeheueres Aufatmen. Und dann fing auch gleich wieder die Kultur an. Man konnte Theater sehen. Ich könnte Ihnen aus dem Jahre 1947 oder 1948 400 Programmhefte zeigen. Man war ausgehungert. Diesen Kulturhunger sehe ich als ersten Zeitabschnitt. Dann kam der erste große Umbruch und das war die Währungsreform. Danach hörte dieses große kulturelle Interesse zwar nicht direkt auf, aber es ließ doch wahnsinnig nach, als plötzlich alle Leute 20 oder 40 Mark bekamen. Wenn man für fünf Mark - plötzlich gab es dann alles wieder - eine Flasche Whiskey kaufen kann oder ein Fahrrad, dann überlegt man sich sehr, ob man das gleiche Geld für Kultur ausgibt.

Frage: Das war die Zeit der Freß- und Reisewelle?

Kaiser: Das würde ich aber keine Epochen nennen. Die nächste Epoche hat stattgefunden, ohne daß wir das alle merkten. Das war Mitte der 50er Jahre als das Fernsehen und die Langspielplatte aufkamen. Es gab vorher nur Schallplatten mit 78 Umdrehungen, die alten Schellack-Platten, da konnten die meisten großen Werke, wie zum Beispiel Wagners "Der Ring der Nibelungen", nicht auf Platte gepreßt werden, da eine Platte vielleicht 6 Minuten faßte. Das wären für die Nibelungen untragbar viele Platten. Und plötzlich mit der Langspielplatte war der ganze vergangene Musikbestand da, von Chopain bis Strawinsky. Das hat das Musikleben total verändert.

Frage: Außerdem kam das Fernsehen!

Kaiser: Seitdem es das Fernsehen gibt, hat das Lesezeitalter aufgehört. Aber egal. Die dritte Epoche ist die, die Historiker überhaupt erst noch beschreiben müßten. Der vierte epochale Einschnitt war natürlich 1968. Die Apo-Revolution. Ich war damals 40, also dagegen. Sowie auch zum Beispiel der Günter Grass dagegen war. Der ist Jahrgang '27, ich bin Jahrgang '28. Der Jürgen Habermas war damals auch dagegen. Er prägte das Wort vom Linksfaschismus.

Frage: Und in welcher Epoche befinden wir uns im Moment?

Kaiser: Ob es jetzt in den 90er Jahren eine neue Epoche gibt, in der das dialektische Denken aufhört und etwas Neues Raum gewinnt? Ob die Postmoderne oder das Post-Postmoderne, das alles gleichwertig macht, sich etabliert, das wage ich nicht zu beantworten.

Frage: Umberto Eco glaubt, daß die Postmoderne, oder das Postmoderne keine begrenzte Strömung ist. Es sei eine Erscheinung, die man zu jeder Zeit finden kann. Womit wir wieder bei dem Kriterium der Wiederholung wären. Wir haben mit der Postmoderne eine Erscheinung zur Hand, die uns sagt, daß wir uns in einer Epoche bewegen, aber in welcher Epoche, das wissen wir nicht. Wir wissen es deshalb nicht, weil wir uns bewegen und nicht still stehen. Das altgriechische Wort "Epoché" bedeutet ja : "das Anhalten". Vielleicht sollten wir zwei Schritt zur Seite treten, innehalten und betrachten? Könnten wir dann die Struktur dieses Epochensystems erkennen?

Kaiser: Das würde der große und kluge Gegner von Habermas Niklas Luhmann auch so sehen.

Frage: Und Galileo auch.

Kaiser: Der Philosoph Husserl sprach von: "in epoche halten". Das heißt, einen Gegenstand aus dem Interesse, das man gerade hat, herausnehmen und ihn ganz kalt, objektiv betrachten, so als ob sich nichts verändere. Das ist eine Art erfahrungstechnischer Trick. Aber Sie haben schon recht: Epoche hat etwas mit Innehalten zu tun.

Frage: Eine zweite Schwierigkeit der Epochenbestimmung ergibt sich daraus, daß wir Bedeutendes, ein weiteres Epochenkriterium, erst im Nachhinein als bedeutend festschreiben können.

Kaiser: Entschuldigen Sie, daß die Wiedervereinigung ein epochales Ereignis ist, kann schon heute kein Mensch bestreiten. Ein höchst erfreuliches Ereignis, aber sicherlich keines, das man mit kulturkritischen Kategorien fassen kann, wie ich das tat, als ich über das Fernsehen redete oder über die 68er-Revolution.

Frage: Sie meinen also, es gibt keinen übergreifenden Epochenbegriff, sondern eine Vielzahl von Epochen die parallel existieren?

Kaiser: Das Übergreifende zu erkennen, ist man wohl wirklich nicht in der Lage. Schauen Sie, als der Wilhelm Furtwängler starb, oder als der Gründgens starb oder als innerhlab von wenigen Monaten drei so große Interpreten wie Claudio Arrau, Wilhelm Kempf und Rudolf Serkin starben, da hatte ich schon das Gefühl, daß etwas zu Ende gegangen ist. All diese Künstler sind ohne Schallplatten groß geworden. Sie hatten eine ganz andere Vorstellung, wie musikalische Wahrheit sein soll, als die, die nach ihnen kamen. Wenn ein Mensch 1925 ein großes Konzert gab, wollte er den großen Zusammenhang so schön wie möglich darstellen. Und wenn nun innerhalb weniger Wochen drei so große Künstler aus jener Zeit sterben, dann kann man sagen, daß eine Art Epoche aufhört. Auch wenn der Kohl, den ich für den am meist unterschätzten Mann Deutschlands halte, stirbt, ist sicherlich eine Epoche zu Ende. Wie mit dem Tode Adenauers eine zu Ende ging...

Frage: ... Aber eine politische ...

Kaiser: Das ist sehr schwer zu sagen, ob ein großer Politiker nicht mehr prägt, als die Politik. Dieses Denken von Adenauer zum Beispiel: nur keine Experimente, das hat sich schon auf das Denken der ganzen Nation ausgewirkt. Da wurden die Deutschen, wie sie jetzt immer noch sind. Auf der einen Seite findet man es zwar furchtbar, was in Bosnien passiert. Auf der anderen aber sagt man, daß man zwar gerne mit Geld helfen will, aber totschießen lassen sollen sich doch bitte die Franzosen. Diese Haltung hat damals bei Adenauer angefangen. Solche großen leitenden Figuren machen mehr als nur Politik, die stellen ein gesellschaftliches Idiom her. Aber ob aus diesen vielen kleinen, einander überlappenden Epochen eine große wird, weiß ich nicht.

Frage: Es gibt große und kleine Epochen. Die kleinen Epochen existieren in Teilbereichen, überlappen sich zum Teil oder verlaufen paralell. Die großen Epochen überspannen die kleinen. Eine dieser großen Epochen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat 1945 begonnen?

Kaiser: Das war ein ganz großer Einschnitt. Aber ein noch größerer Einschnitt, den es im 20. Jahrhundert gegeben hat, war ganz ohne Frage 1918. Und zwar aus folgendem Grund: Die Generation, die bewußt den ersten Weltkrieg miterlebt hatte, wurde im bürgerlichen Zeitalter geprägt. In ihnen ist im und nach dem Krieg eine Welt zerbrochen. All ihre Werte, wie zum Beispiel der Patriotismus, waren nach dem Krieg nichts mehr wert. Damals gingen eine Million junger Menschen nach Langemark und ließen sich freiwillig und auch ganz sinnlos erschießen. Das war eine ideele Geste, weil man als junger Deutscher Patriot war. Das alles ging während des ersten Weltkrieges und danach kaputt. Das heißt: der größte Epochenschnitt war sicherlich das Jahr 1918. Diese gesamte bürgerliche Sittlichkeit hatte ihr Ende gefunden.

Frage: Dann ist der Titel unserer Beilage "1945 Zwischenzeit 2045" unzutreffend?

Kaiser: Ich widerspreche Ihnen nur ganz leise.

Frage: Wenn man Zeitungen liest, fernsieht, dann schlägt einem der Begriff Epoche entgegen. Ein epochales Ereignis löst das andere ab. Auch dieser Beitrag, in dem das 50jährige Bestehen der SZ in einen epochalen Rahmen gestellt wird, trägt ja zu dieser Inflation des Epochenbegriffs bei.

Kaiser: Das ist etwas anderes. Das ist ganz schlicht Großrednerei und Angeberei. Wenn irgendein Intendant in Aschaffenburg nach drei Jahren zurücktritt, dann heißt das gleich, das war die Epoche des Intendanten Kleinert. Oder wenn ich hier bei der SZ eines Tages aufhören werde, wird man sagen, das war die Ära Kaiser. Das gehört dazu, weil man instinktiv spürt, daß nicht so furchtbar viel los ist.

Frage: Heißt das, es passiert zu wenig?

Kaiser: Es ist nicht so leicht zu sagen, daß nicht genug passiert. Es sind zwei Dinge zueinander im Widerspruch. Auf der einen Seite haben sowohl die Macher als auch das Publikum immer weniger Geduld. Bitte keine zu langen Kriken, im Film keine zu langen Einstellungen, damit der Werbeblock kommen kann. Diese ganze Videoclip-Kultur dient dazu, daß man alles auf möglichst einfache Ja-Nein-Entscheidungen bringen kann. Das große, zusammenhängende Objekt des Seins wird in Kleinigkeiten zerhackt, damit man nicht allzuviel Geduld aufwenden muß, um das Ganze zu begreifen. Auf der anderen Seite steht das, wofür ich mich einsetze, nämlich die schöne, große Kunst. Ich versuche den Leuten zu sagen: das Schöne läßt sich nicht abkürzen. Man kann vielleicht von einem Mathematikbuch eine kurze Zusammenfassung machen, aber etwas, was schön ist, sagen wir zum Beispiel Dantes "Divina Commedia" oder ein großes Gedicht von Hölderlin, kann man nicht abkürzen. Da muß man Lebenszeit investieren.

Frage: Ist dieser Widerspruch ein Anzeichen dafür, daß epochal etwas passiert? Daß zum Beispiel der alte Begriff von Schönheit, wie Sie ihn beschreiben, verschwindet und daß daraus etwas Neues entsteht?

Kaiser: Das glaube ich nicht. Es gibt von Berthold Brecht den schönen Satz: die Kunst soll nichts beschönigen, aber verschönen soll sie schon. Also der Unterschied zwischen Beschönigen und Verschönen auf den kommt es verdammt an. Das eine ist diese Mogelei und das andere ist eine große Dimension. Schauen sie sich die Kathetralen in Frankreich an oder die Tempel in Griechenland, das ist die Verschönung und Steigerung des Lebens. Und ohne das wären wir wirklich Barbaren

Text: © Matthias Zuber / polyeides medienkontor