Mangel als Tugend ?
Die Revolution hat gerade erst begonnen: Das Konzept des Videojournalisten verändert die deutsche Medienlandschaft
VON DOROTHEE FESEL

Der Ursprung der Revolution liegt in der Stadt der 600 Fernsehkanäle, New York. Ihr Guru heißt Michael Rosenblum und arbeitet seit zwölf Jahren als Videojournalist, wie er selbst sagt. Der ehemalige CBS-News-Redakteur betreibt heute international operierende Fernseh-Consulting-Unternehmen und unterrichtet an der New Yorker Universität. Mit seiner Vision vom kostengünstigen, kreativen Fernsehen tourt er inzwischen durch ganz Europa, nachdem er die BBC und den Hessischen Rundfunk bekehrt hat.

Beide Sender bilden inzwischen eine wachsende Zahl von Videojournalisten aus. Einer von Rosenblums Jüngern - in Deutschland wohl der erfolgreichste - ist Andre Zalbertus. Der Inhaber der Kölner Fernseh-Produktionsfirma AZ Media TV bietet seit zwei Jahren Volontärsausbildungen zum Videojournalisten an. Inzwischen beliefern 14 Redakteure aus Köln regelmäßig verschiedene Fernsehformate.

Material im Zentralrechner
Anfang des Jahres ging das AZ-Zentrum in Hamburg auf Sendung. Dort werden die RTL-Regionalprogramme für den norddeutschen Raum produziert. Die Redakteure drehen dort in der Regel selbst. Das gedrehte Material wird in einen Zentralrechner eingegeben und vom Redakteur am Computer bearbeitet. Das gesamte System war dank digitaler Technik und sinkender Preise im Broadcastbereich wesentlich preiswerter als ein herkömmliches Sendestudio.
Momentan stehen in Hamburg etwa 30 Arbeitsplätze zur Verfügung. Das spart Mitarbeiter, Zeit und Geld. Kritikern der neuen Entwicklung sagt Zalbertus: "Ich mache Fernsehen für Zuschauer. Dabei interessiert nicht die Frage, wie es gemacht wurde. Das ist ein Thema für Medientechnikseminare." Der sendefähige Beitrag eines Ein-Mann-Teams kostet nur einen Bruchteil dessen, was er unter herkömmlichen Produktionsbedingen erfordern würde. Das sind 600 bis 1000 Euro statt 3 000 Euro für einen dreiminütigen Beitrag. Rosenblums Rechnung scheint aufzugehen. Hauptberufliche Kameraleute und Cutter dagegen haben Angst um ihre Arbeitsplätze. Auch innerhalb der AG Dok, der Interessenvertretung der Dokumentarfilmer, wird das Thema heftig diskutiert. Mehr als 750 Autoren, Regisseure, Kameraleute und Produzenten, darunter auch Videojournalisten sind in der AG-Dok vertreten. Thomas Frickel, geschäftsführender Vorstand und selbst renommierter Dokumentarfilmer, sagt: "Die meisten Mitglieder befürchten durch diese neue Entwicklung eine Verschlechterung des Niveaus der Fernsehdokumentationen."
Die Gefahr liege nahe, so Frickel, dass in Zeiten leerer Kassen die Sender den Mangel einfach zur Tugend erklären und die Budgets für Fernsehdokumentationen noch weiter senken. Und zum anderen könne eine einzelne Person wahrscheinlich nie die gebündelten Kompetenzen von drei erfahrenen Profis ersetzen.
Auch die Mitglieder der Interessenvertretung für Medienschaffende, Connvexx AV, sehen die Entwicklung skeptisch. "Die Medien sind ein riesiger Markt für Quereinsteiger und Kameramann ist kein geschütztes Berufsbild", sagt Projektmanager Olaf Hofmann. Und dank der immer benutzerfreundlicheren Technik könne bald jeder nach einer kurzen Einführung sendefähiges Material produzieren. Hofmann hält trotz der Gefahr den Videojournalismus vorerst für eine "Spielwiese": "Im Kanzleramt kann ich mir einen Videojournalisten kaum niveauvoll vorstellen", sagt er, "bei einem Bienenzüchter in der Region ist das eher machbar."
Helmut Reitze aber, Intendant des Hessischen Rundfunks, will diese Bedenken nicht teilen. Er beteuert, er könne keinen sichtbaren Qualitätsunterschied zwischen den Videojournalisten-Beiträgen und den traditionell gefertigten erkennen. Außerdem seien die Videojournalisten in kurzer Zeit zu einem normalen Teil des Produktionsalltags geworden. Und sie arbeiteten nicht nur an kleinen Newsbeiträgen über Bienenzüchter, sondern auch an langen Reportagen. "Videojournalisten stehen für moderne und kostengünstige Filme, die die Zuschauer noch näher an Personen und ihre Geschichten heranbringen", sagt Reitze. Denn ein einzelner Reporter mit einer kleinen Kamera könne in vielen Situationen authentischer am Geschehen bleiben als ein dreiköpfiges Team mit einer schwerfälligen Ausrüstung.
Michael Rosenblum sieht im Videojournalismus eine weitere Demokratisierung des Mediums Fernsehen. Denn bald könne jeder mit bezahlbarem Aufwand sendefähige Beiträge erstellen. Das Nachrichtenmonopol läge dann nicht mehr nur bei finanzkräftigen Produktionsfirmen. Eine neue Vielfalt könne so das Fernsehen beleben, das manchmal doch recht langweilig einheitlich daherkäme. Rosenblum sieht in der neuen, leicht beherrschbaren Videotechnik den Motor für die Entwicklung neuer Tugenden bei den Machern wie Risikobereitschaft, Experimentierfreudigkeit und Individualität: "Wenn wir diese Technik in Hände von Menschen geben, die Visionen haben, dann bekommt es etwas Künstlerisches", sagt er.
Johann Mayr, an der Fachhochschule Hagenberg Medientechnik und -design lehrend, warnt davor, Innovation mit Kreativität zu verwechseln. "Wenn sich ein Innovationsdruck ergibt, heißt das noch lange nicht, dass damit eine Steigerung der künstlerischen, analytischen und journalistischen Kreativität verbunden ist." Aus Mayrs Sicht führt Videojournalismus zur Vereinzelung. Wenn aus dieser Entwicklung keine Qualitätsminderung resultiere, dann mindestens eine verminderte Reflexion des eigenen Tuns.

Ganz gegenteilige Effekte bewirken die neuen Möglichkeiten bei kleinen Firmen und jungen Filmemachern. Gerade im Bereich Reportage und Feature können sie gemeinsam mit knappen Budgets Beiträge erstellen, die vorher so nicht oder kaum möglich waren. Die Berliner Produktionsfirma Oval-Film realisierte die Arte-Dokumentation 'Kapital: Mensch', am 28. September innerhalb des Themenabends Schöne neue Arbeitswelt gesendet. Ohne dass die Autoren selbst die Kamera in die Hand genommen hätten, wäre das Projekt nicht möglich gewesen, für das in Deutschland, Österreich, Zypern, Sri Lanka und New York gefilmt wurde. Eine verminderte Reflexion des eigenen Tuns sieht man dem Film nicht an.
Näher dran am Motiv
"Einen ganz großen Vorteil gegenüber einer Produktion mit Kamerateam sehe ich darin, dass man den Personen, die man filmt, viel näher kommt", sagt Matthias Zuber. Er arbeitet seit knapp drei Jahren mit seiner Firma "polyeides" als Videojournalist und unterrichtet auch an der deutschen Journalistenschule in München und der Berliner Journalistenschule. Der 38-Jährige produzierte Beiträge für Kulturmagazine, Porträts und Reportagen. Zuletzt zeigte die ARD Anfang des Jahres von ihm Liebe tut weh - Sexueller Missbrauch an geistig Behinderten.
"Dieser Film wäre anders gar nicht machbar gewesen", sagt Zuber. Zum einen hätten er und seine Kollegin wesentlich mehr Zeit mit dem Dreh gebraucht, als das innerhalb des Fernsehbudgets mit einem ganzen Team möglich gewesen wäre, "und zum anderen hätten wir mit einem dreiköpfigen Team nie die Chance gehabt, eine Atmosphäre herzustellen, in der wir mit den betroffenen Frauen hätten arbeiten können". Unter herkömmlichen Bedingungen wäre also der Film über dieses schwierige Thema wohl nicht entstanden.

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Dokument erstellt am 16.11.2004 um 16:20:12 Uhr
Erscheinungsdatum 17.11.2004