Fortbildung

Revolution Blind
VJismus – eine epochale Umwälzung, die fast unbemerkt stattgefunden hat


Dunkel ist es. Die aufgeregten Diskussionen um das Für und Wider des Videojournalismus beleuchten im besten Fall nur einen schmalen Streifen der Wirklichkeit. Während Sender langsam offiziell umrüsten auf VJs, hat die Revolution eigentlich schon längst stattgefunden. Es sind die kleinen und kleinsten Einheiten im Fernsehgeschäft, die seit Jahren im Versteckten operierten. Mit gutem Grund. Gezwungen durch niedrige Budgets, knappe Drehzeiten, unmotivierte, fest angestellte Kameraleute oder einfach aus Lust am Bildermachen griffen freie Autoren bereits Ende des letzten Jahrtausends selbst zur DV-Kamera. Meist ohne das Wissen der Auftraggeber. „Denn“, so einer, der hier lieber nicht genannt werden will, „1998/99 hatten die meisten Redaktionen noch heftige Berührungsängste vor der semiprofessionell empfundenen Technik“. So produzierte man schnell und preiswert auf der eigenen DV-Kamera, schnitt das Material im eigenen Rechner und ließ es auf Beta oder Digibeta ausspielen. Man war also Produzent, Kameramann, Tonmann, Cutter und Autor in einer Person. Einige der Befragten arbeiten zwar mit einem Assistenten. Denn für ein qualitativ gutes Stück benötige man eben oft dann doch zumindest vier Hände und Augen. Doch das schmälert den Mehrverdienst nur gering. „Die meisten Redakteure haben den Unterschied zwischen DV und Beta Material eh nie gesehen“, sagt unser unbekannter Fernsehautor. „Und wenn man eine qualitative Differenz noch auf einem professionellen Monitor erkennen kann, spätestens wenn der Film im Aldi-Fernseher im Wohnzimmer läuft, ist da kein Unterschied mehr zu sehen wegen der relativ schlechten Bildqualität der TV-Geräte.“ Der Vorteil dieser Arbeitsweise liegt auf der Hand. Man bekam mehr Geld, war freier in seiner Zeiteinteilung und konnte einfacher einen eigenen Stil entwickeln. Verdient man als konventioneller Autor an einem Vier- bis Fünfminüter zwischen 1.000 und 1.400 Euro, schaffte man es auf diese Weise auf gut 3.000. „Das aber mit der fünffachen Arbeitsbelastung und einem sicherlich zwei bis dreimal größeren Fachwissen als das, welches ein normaler Autor hat“, gibt unser Unbekannter zu bedenken. Also doch kein gutes Geschäft? „Man hat es geschafft als Freier, Fixkosten und Lebensunterhalt besser zu bestreiten und war nicht gezwungen von einem Job zum nächsten zu hasten, hatte mehr Zeit für die Geschichten.“ Doch seitdem auch Fernsehsender, allen voran der Hessische Rundfunk, im großen Stil mit Videojournalisten arbeiten, gehen diese Zeiten dem Ende entgegen. So zahlt der HR, bei dem inzwischen 62 Videojournalisten im Einsatz sind, einem VJ 25 Prozent mehr Tagesgage als einem reinen Autor. Das Modell hat auch die Deutsche Welle übernommen, die inzwischen auch auf VJs setzt. Seit April letzten Jahres. Insgesamt 25 Videojournalisten sind im Einsatz. Im August werden noch einmal 14 und im Oktober noch einmal 12 Leute als VJs ausgebildet. „Eingesetzt werden unsere Videojournalisten,“ sagt Christian Tribbe, der Projektleiter bei der Deutschen Welle, „im Bereich Semiaktualität und Magazin“. Er schwärmt von der unglaublichen Nähe zu den Protagonisten, die manche VJ-Stücke besitzen. Auch der HR streicht dies immer wieder als großes Plus des VJismus heraus. Jan Metzger, der Projektleiter beim HR, sagt, dass man bisher in die Ausbildung und Umrüstung in Sachen VJs mehr Geld gesteckt, als gespart hätte. Er rechnet, dass der berühmte Break-even-Point in ein bis zwei Jahren erreicht ist und sich dann die Investitionen bezahlt machen. Die Zuschauer, so hat eine begleitende Studie des HRs herausgefunden, nehmen den Unterschied zwischen einem herkömmlich produzierten und einem VJ-Beitrag nicht wahr. Die VJ-Beiträge sind voll konkurrenzfähig. Im Moment bestreite man etwa 10 Prozent des Programms damit. Zwar sei er kein Prophet, erklärt Jan Metzger, aber es ist vorstellbar, dass das Volumen auf 20 Prozent in den nächsten Jahren ansteigt. Auf Dauer wird sich kein Sender mehr dem VJismus verschließen können. Auch ZDF, MDR und NDR beginnen langsam das VJ-Terrain zu erkunden. Der Bayerische Rundfunk hat bereits vor dem HR mit Videoreportern experimentiert. Und bei den Privaten sind sie schon längst im Einsatz. Andre Zalbertus mit seiner Firma AZ Media, die selbst eine eigene VJ-Schule betreibt und eine eigene VJ-Redaktion in Berlin besitzt, war auf dem Gebiet der Professionalisierung des VJismus in Deutschland der Vorreiter. Inzwischen interessiert sich Andre Zalbertus für das Lokalfernsehen. „Ich würde gerne in die Wirtschaftsgeschichte eingehen als derjenige, der es geschafft hat, das Lokal-TV wirtschaftlich zu gestalten“, sagt er. Zu schaffen ist das nur mit preiswerten VJs. Die Schweizer haben vorgemacht, dass das geht. TeleZüri, ein Züricher Lokalsender, hat es in nur zehn Jahren geschafft vom belächelten VJ-Sender zur ernsthaften Konkurrenz von SF DRS, dem schweizer öffentlich-rechtlichen Fernsehen, zu werden und schwarze Zahlen zu schreiben. TeleZüri erreicht täglich bis zu 500.000 Zuschauer. Doch was bedeutet diese Entwicklung für Autoren, Produzenten, Kameraleute? Reinhold Ferdinand von der Vereinigung der Rundfunk-, Film- und Fernsehschaffenden (VRFF) ist Vorsitzender der Betriebsgruppe ZDF, das gerade auch an einem VJ-Pilotprojekt arbeitet. „Wir beim ZDF gehen da sehr vorsichtig vor“, sagt er. Punkte, wie Arbeitsplatzerhalt für Kameraleute und Cutter, wie Gehalt und Belastbarkeit der Mitarbeiter, stehen im Fokus. Wie diese neue Entwicklung allerdings in Zahlen aussieht oder aussehen wird, darüber kann er keine Angaben machen. Vielleicht wird der VJismus 10 Prozent der Arbeitsplätze im betroffenen Bereich überflüssig machen. Aber auch er sei kein Prophet. Johannes Kreile, der geschäftsführende Justitiar des Bundesverbandes Deutscher Fernsehproduzenten, sagt, dass die Produzenten flexibel auf den Markt und die veränderten Produktionsbedingungen reagieren würden. Das heißt im Klartext, Techniken, die Einsparungen versprechen, sind in Zeiten knapper werdender Budgets gerne gesehen. Inzwischen wird auch nicht nur im dokumentarischen und aktuellen Bereich mit VJ-Technik gearbeitet, sondern auch im fiktionalen. Ein Beispiel für den Trend ist die Fernsehserie „Lenßen und Partner“ auf sat1. Zahlen, inwiefern VJ-Produktionen zugenommen haben, besitzt auch der Bundesverband der deutschen Fernsehproduzenten nicht. Die VJ-Revolution findet in einer statistischen Dunkelkammer statt. Auch Veronika Mirschel von der Gewerkschaft verdi kann nicht mit Zahlen dienen. Noch nicht. Eine Erhebung sei gerade im Gang. Allerdings sehe sie die Gefahr eines weiteren Preisverfalls. Auf Grund der gespannten Arbeitsmarktlage für Freie würden einige Kollegen bereits jetzt Preise setzen. Sie vermeidet das Wort „Dumping“, meint es aber. „Die Sender sind in erster Linie am Kostensparen interessiert, nicht an Qualität“, sagt Michael Neubauer, der Geschäftsführer des Bundesverbandes Kamera (BVK), der knapp 500 Kameraleute der etwa 6.000 deutschen Kameraarbeiter nebst Assistenten vertritt. Der intelligentere Teil der Bevölkerung schalte ja eh bereits den Fernseher ab, sagt er. Er hält VJismus mit Journalismus für unvereinbar. „National Geographic oder Merian drücken ihren Journalisten ja auch keinen Fotoapparat in die Hand und sagen, knipst mal“, erklärt er seine Position. Sowohl auf eine ordentliche Bildgestaltung wie eine saubere Recherche und Dramaturgie zu achten, wäre als Einzelperson nicht leistbar. „Ich fürchte um ein Stück unserer Demokratie“, sagt er. Denn seiner Meinung nach wird Videojournalismus das Fernsehen noch seichter und flacher machen, noch schlechter recherchierte Geschichten würden noch schlechter verpackt pixelflimmernd die Haushalte überfluten. Um etwas anderes fürchtet unser anonymer Fernsehautor. Erst vor wenigen Tagen hatte er ein Gespräch mit einem Redakteur der Deutschen Welle. Es ging um einen Vierminüter, für den teilweise im Ausland gedreht werden muss. „Der Redakteur bot mir für das fertig geschnittene Stück 3.000 Euro mit der Begründung, ich könne ja auch als VJ das Ganze machen“, erzählt er. Ein Preis für den selbst als Videojournalist nichts mehr zu verdienen sei, wenn man Flüge, Übernachtungen und sonstige Ausgaben abrechne. AZ Media gibt für einen fertigen 20 bis 30 minütigen Film auf VJ-Basis etwa 5.000 Euro. ntv zahlt ähnliche Preise. Zum Vergleich verdient ein konventioneller Autor bei einem halbstündigen Feature zum Beispiel für den RBB etwa 6.200 Euro, ohne selbst zu drehen, für irgendwelche Kosten aufkommen zu müssen oder den Beitrag selbst zu schneiden. Und dennoch ist die VJ Produktionsweise eine große Chance gerade für kleinere und Kleinstfirmen. „Ohne radikale Selbstausbeutung und ohne dass wir die Kamera selbst in die Hand genommen hätten, wäre 'Kapital: Mensch’ nie entstanden“, sagt Robert Cibis von Oval Film. Der Produzent, Kameramann und Autor drehte vor knapp zwei Jahren den 52minütigen Film zusammen mit seiner Kollegin Lilian Franck für einen arte Themenabend. Damit der Film über die moderne Arbeitswelt in der Dichte und Breite entstehen konnte, waren beide insgesamt über drei Monate in New York, drei Monate auf Zypern und ein halbes Jahr in Sachsen-Anhalt. Unter normalen Bedingungen undenkbar. Die Folge ihres Engagements: zwei weitere arte Themenabend Produktionen. Der Avantgardist der Bewegung, Andre Zalbertus, sieht im VJismus die Chance für eine wirkliche Demokratisierung der Medien. „Für den Preis eines Mittelklassewagens können Sie heutzutage ihren eigenen kleinen Sender fahren“, sagt er. VJs zu Programmdirektoren. Doch unser unbekannter Fernsehautor ist skeptisch: „Ich glaube, dass die Preise weiter in den Keller gehen werden, dass von einem Fernsehjournalisten in Zukunft erwartet wird, dass er selber filmen kann, schneiden, eigenes Equipment hat und das zu einem Preis, der unter dem liegt, was heute einem konventionellen Autor gezahlt wird.“ Was fehle, sei eine einheitliche Interessenvertretung der VJs, die Standarts setze. Doch das sei schwierig, denn richtige VJs seien nun einmal Individualisten, die nur schwer zu einer Gruppe zusammenzufassen sind. Die bestehenden Interessenvertretungen hätten im Bereich VJismus zu lange geschlafen und würden gerade erwachen. Zu spät, wie er fürchtet.



Matthias Zuber ist Mitbegründer von polyeides, lebt und arbeitet als VJ, TV-, Print- und Radio-Journalist in Berlin und unterrichtet u.a. Videojournalismus.