Frankfurter Rundschau Magazin, 21.04.2001

wenn disney das wüsste

 


Mit "Prinzessin Mononoke" wollen japanische Trick-Experten die westlichen Kinozuschauer gewinnen. Ihr Erfolgsrezept: ein Mix aus Märchen und Mythen aller Kulturen – quirliger, witziger und orgineller als Hollywood

Das Geld tropft aus den Wänden. Sprichwörtlich. Die Tapeten sind aus bestickter Seide, der Quadratmeter kostet ein paar hundert Mark, die Möbel antik. "Frühes 18. Jahrhundert, Frankreich", sagt ein Angestellter des Berliner Hotels. Jeder Kubikmeter schwitzt Reichtum aus und Exklusivität. Luxus. Die Teppiche sind ein wenig zu dick, das Licht ein wenig zu gedämpft und der Vorhang, durch den die Sonne in den Raum fällt, ein wenig zu rosa. Hayao Miyazaki lacht: "Rosa Zeiten", sagt der Mann mit den weißen Haaren und der dicken, schwarzen Brille. Menschen, die in solchen Hotels untergebracht werden, sind entweder richtig reich oder berühmt oder beides. Hayao Miyazaki ist sicher nicht arm, doch richtig reich? "Es gibt reichere Menschen in Japan", sagt er. Und berühmt? "In Japan, naja, vielleicht ein wenig." Hier in Europa jedenfalls kennt ihn kaum jemand und das genieße er, sagt er mit japanischer Bescheidenheit. Miyazaki ist einer der erfolgreichsten japanischen Filmemacher - und das mit Zeichentrickfilmen.
Sein Film "Mononoke Hime", der gerade in Deutschland unter dem Titel "Prinzessin Mononoke" in den Kinos gestartet ist, war 1997 in Japan der erfolgreichste Film aller Zeiten. Über 14 Millionen Eintrittskarten wurden verkauft. Das heißt statistisch: Jeder achte Japaner hat den Film gesehen. Da konnten nicht einmal ET und andere US-Blockbuster mithalten. Alleine in Japan spielte Mononoke, der etwas mehr als 30 Millionen Mark gekostet hat, über 200 Millionen ein.


Das Hotel-Appartment paßt dennoch nicht zu dem Mann, um dessen Mundwinkel immer ein Hauch von Selbstironie spielt und der viel und gerne zu lachen scheint. Die Ausstattung ist zu pompös, zu wichtigtuerisch. Es ist wohl ein Symbol, ein Zeichen der Verleihfirma, das bedeuten soll, dass man ihn über alle Maßen schätze. Miyazaki war schließlich lange Zeit ein Konkurrent, bis Disney die Weltrechte an seinen Filmen gekauft hat. "Ich betrachte das als Auszeichnung", sagt Miyazaki und man weiß nicht so genau, ob das jetzt Ironie oder Geschäftssinn ist. "Prinzessin Mononoke" wird in Deutschland von der Disney-Tochter Buena Vista ins Kino gebracht. Lange Zeit sah es für Fans japanischer Zeichentrickfilme und Comics, sogenannter "Anime" und "Manga", so aus, als hätte der amerikanische Unterhaltungskonzern, sich lästige Konkurrenz vom Hals gekauft. Disney horte die Rechte an Miyazakis Werk, um die Filme weltweit von der Leinwand zu bannen, so die Befürchtung. Inzwischen aber sind die Bildergeschichten aus dem Land der aufgehenden Sonne in Form von Comics, den Manga, auch hierzulande so populär und Trend. "Mononke Hime" stellt in Deutschland wohl so eine Art Testlauf für Anime im großen Stil in Kinos dar. Eigentlich hätte "Prinzessin Mononoke" bereits vor drei Jahren in der Bundesrepublik starten sollen. Doch zu Gunsten des Disney-Zeichentrickfilms "Mulan" wurde der Termin verschoben. Man wollte sich im Hause Disney nicht selbst Konkurrenz machen. Wie "Mulan" ist "Prinzessin Mononoke" eine junge, asiatische Frau, die als Kriegerin eine Mission erfüllen will, und es geht in beiden Filmen um eine scheinbar unmögliche Liebe. Doch anders als in "Mulan" sind in Miyazakis Film die Rollen von Gut und Böse, Schwarz und Weiß nicht so stereotyp und eindeutig verteilt. Prinzessin Mononoke lebt im 15. Jahrhundert und ist ein Geschöpf des Waldes. Großgezogen vom Waldgott Moro verteidigt das Mädchen die Natur, das Reich der Tiere, gegen die Menschen, die immer tiefer in die Wälder vordringen, die Bäume roden und das wertvolle Erz abbauen. Auf der Seite der Menschen steht der junge Krieger Ashikata, einer der letzten Nachkommen der Emishi, einem mythischen japanischen Volk aus dem Norden. Ashikata kämpft für die Bewohner des Dorfes Tatara Ba, die in einer Art klassenlosen Gesellschaft vom Erzabbau leben. Die beiden Hauptakteure verlieben sich ineinander - gegen ihren erklärten Willen. Weder die Vertreter der Zivilisation, noch die der Natur haben ein Konzept zur Rettung der Erde. Im Gegenteil - ihr Kampf bringt ihre Welt an den Rand der Apokalypse.


"Die Kinder sind heute starken Stimulationen durch die Medien ausgesetzt und die Gefühle, die diese Medien erzeugen, sind meist negativ", sagt Hayao Miyazaki. "Mit meinen Filmen will ich den Kindern eine schöne Zeit schenken, die schlechte vergessen macht." Das klingt ein wenig pathetisch - gerade in dieser Umgebung - und so ergänzt er: "Ich mag es nicht, wenn Leute meinen, dass sie im Besitz der alleinigen Wahrheit sind. Weder bei Greenpeace noch bei ethnischen oder religiösen Gruppen. Ich mag keine Fundamentalisten, die ihre eigenen Standards auf andere anlegen und die anderen dann zwingen diese Standards zu übernehmen." Wenn etwas von dieser Sicht in Mononoke über die Kulturgrenzen transportiert würde, wäre der Regisseur glücklich. Warum Manga und Anime in den USA und Europa boomen und auch in Deutschland immer mehr Käufer finden, beantwortet er mit einem Schulterzucken. Er jedenfalls ist sich gerade bei "Mononoke Hime" bewußt geworden, wie stark er in der japanischen Kultur und Naturvorstellung verwurzelt sei. Deshalb erstaune ihn auch sein Erfolg im Ausland immer wieder. "Ich glaube, dass die Populärkultur immer einen Hang hin zum Konservativismus hat", sagt der Meister.


Dabei könnte gerade er über den weltweiten Erfolg des Phänomens Manga und Anime über seine eigenen Arbeiten Auskunft geben. Denn neben erfolgreichen Anime wie der TV-Serie "Alps no Shojo Heidi" (Heidi, ein kleines Mädchen aus den Alpen), die in Deutschland als "Heidi" im Fernsehen lief, und zahlreichen japanischen Kultfilmen ist Miyasaki auch ein erfolgreicher Comic-Autor und -Zeichner. Der erste Teil seines Manga "Kaze no Tani no Nausicaä" (Nausicaä aus dem Tal des Windes) erschien 1982 im Magazin Animage und wurde ein enormer Erfolg. Kurze Zeit später kam Nausicaä, wie fast alle erfolgreichen Manga-Serien, als eigenständige Buchausgabe heraus. Unüblich waren der Zeichenstil und das Format. Das Format war größer als das der normalen Manga und Miyazakis Bilder waren mit einer Detailversessenheit gezeichnet, die im Manga selten sind. Und die Geschichte selbst ist ein wilder Mix aus ost-westlichen Motiven.


Denn Nausicaä ist eine Mischung aus der mythischen Tochter des Königs der Phäaken, die in Homers Dichtung Odysseus rettet, und aus einer Prinzessin, die in einer japanischen Sage aus dem frühen elften Jahrhundert "die, die Insekten liebt" heißt. Die Geschichte spielt in einer Zeit nach einer globalen ökologischen Katastrophe. Die großen Nationen sind verschwunden und die Erde wird zu großen Teilen vom "Meer der Korruption" bedeckt. Der Rest besteht aus Wäldern und kleinen Königreichen. Prinzessin Nausicaä versucht zwischen den Menschen und gigantischen Insekten Frieden zu stiften.


Typisch für Manga, ist die Vermischung und Verschmelzung westlicher und östlicher Mythen zu einem Stück Popkultur. Für den westlichen Leser ein Abenteuer. Denn bekannte Muster und Personen aus Hollywoodfilmen, Romanen oder antiken Sagen sind vertraute Inseln in einem Meer von Unbekanntem. Die vertraute Dramaturgie wird gebrochen und manche Anime und Manga, zumindest die Besten unter ihnen, lassen erstaunen und vermitteln einen anderen, einen neuen Blick auf eine vertraut geglaubte Welt.


Das Spiel mit Symbolen, Mythen und Zeichen aus anderen Kulturen hat in Japan eine lange Tradition. So verwenden die Japaner vier verschiedene Schriftsysteme parallel. Das Nebeneinander von Laut- und Bildschrift hatte zur Folge, dass sich nicht wie in der westlichen Kultur eine Präferenz der Schrift vor dem Bild entwickelt hat. Tezuka Osamu, der "japanische Disney" und großer Reformator des Manga nach dem Zweiten Weltkrieg, sagte über seine Zeichnungen: ”Ich betrachte sie nicht als Bilder - sondern als eine Art Hieroglyphen. In Wirklichkeit zeichne ich gar nicht. Ich schreibe eine Geschichte mit einer einzigartigen Art von Symbol." Statt eines Textkästchens ”Am nächsten Tag", zeichnet der Manga-Künstler eine aufgehende Sonne, Stimmungen werden durch Natursymboliken dargestellt. Ein absterbender Baum oder fallende Kirschblüten, stehen in unzähligen Samurai-Manga für den Tod des Helden. Im Mädchenmanga spiegeln oft Landschaftsbilder die Seelenlage der Heldin oder des Helden. Diese enge Verbindung zwischen Bild, Sprache, Form, Denken ist vielleicht auch einer der Gründe, warum die Japaner ein Volk von begeisterten Comiclesern sind und die Mangaindustrie ein Milliardengeschäft.


Manga sind so alt wie die Notre Dame. Ihre Geschichte reicht zurück bis ins 12. Jahrhundert. Die Figuren auf den ”Tier-Rollen" des Bischofs Toba, die das buddhistisch-klösterliche Leben jener Zeit beschreiben, sehen aus wie nahe Verwandte von Micky und Goofy. Während der Edo-Periode (1600 - 1867) wird das Genre professioneller. Dank Holzdruck steigt die Auflage und die einzelnen witzigen Bilder werden zu Cartoon-Büchern zusammengefaßt. Der Künstler Katushika Hokusai (1760 - 1849) nennt seine realistisch bis surrealen Werke ”Manga", was soviel wie ”unverläßliche, verzerrte Bilder" bedeutet. Mit George Bigot und Charles Wigman und deren Satire Magazine kommen Ende des 19. Jahrhunderts europäische Einflüsse in die japanische Bilderwelt. Doch so richtig boomt der Markt erst nach dem zweiten Weltkrieg. Tetzuka Osamu revolutioniert das Genre mit seinen am Kinofilm geschulten Zeichnungen. Über 150.000 Manga Seiten schuf er im Laufe seines Lebens, darunter Klassiker wie "Tetsuwan Atom" (Atom-Boy, 1951), "Ribon no Kishi" (Die Prinzessin mit der Schleife, 1953), "Phoenix" (1954 - 1989) und "Jungel Taitei" (Herrscher des Dschungels, 1965), der im deutschen Fernsehen als kleiner weiße Löwe Kimba zu sehen war. Nach Deutschland kamen Manga und Anime via TV. Serien wie Miyazakis "Heidi" oder Osamus "Kimba" waren die Vorhut.


1982 wurde das erste Manga als Buch in Deutschland veröffentlicht: "Barfuß durch Hiroshima" (Hadashi no Gen) von Keiji Nakazawa. Nakazawa, selbst Atombombenopfer, beschreibt darin die Geschichte seiner Familie, die bis zum Abwurf der Atombombe am 6. August 1945 in Hiroshima lebte. 1982 war das Phänomen Manga im Westen noch unbekannt. Nakazawas gezeichnete Erinnerungen erschienen beim Rowohlt Verlag in einer Buchreihe über aktuelle politische Ereignisse. Es dauerte noch neun Jahre bis im April 1991 der Carlsen Verlag den legendären Manga "Akira" von Otomo Katsuhiro herausbrachte. "Akira" entwickelte sich zum Bestseller und "Manga" avanciert zum Synonym für "Erfolg". Carlsen macht inzwischen einen großen Teil seines Comic-Umsatzes ausschließlich mit Bildergeschichten aus Fernost.


Miyazaki zieht den rosa Vorhang ein wenig zur Seite. Er blinzelt in das harte, kalte Licht Berlins. Die Stadt sei ein wenig wie aus einem Manga, sagt er. All die verschiedenen, fremden Epochen, alt und neu nebeneinander und die vielen Geschichten, die sich hier eingebrannt haben. Aufgefallen seien ihm vor allem die Steinfiguren, die hier überall auf den Häusern sitzen. Was die erzählen könnten. Vielleicht macht er seinen nächsten Film über eine dieser steinernen Gestalten.

Text: © Matthias Zuber / polyeides medienkontor